19
»Mr. Machia, mein Name ist Hy Kaskel«, stellte sich Augenbraue vor, als er sich am nächsten Morgen ein Stück von seinem Stuhl entfernte. »Ich werde Ihnen ein paar Fragen im Namen meines Mandanten stellen, Mr. Dominic Cavello.«
Andie DeGrasse schlug in ihrem Notizbuch eine neue Seite auf und skizzierte eine Karikatur des Verteidigers, der Augenbraue. Sie hatte beschlossen, das, was am Abend zuvor passiert war, für sich zu behalten. Was konnte sie schon beweisen? Im Moment war sie nicht scharf auf eine weitere Auseinandersetzung mit Sharon Ann über die »Infiltrierung der Geschworenen«.
»Ich kenne Ihren Mandanten, Mr. Kaskel«, erwiderte Machia. »Gut.« Der Miniaturanwalt nickte. »Würden Sie bitte denGeschworenen erzählen, wie Sie ihn kennen
gelernt haben?« »Ich kenne ihn einfach, Mr. Kaskel. Ich saß ab und
zu mit ihm
an einem Tisch. Er war an dem Abend dabei, als ich zum
Soldaten gemacht wurde.«
»An einem Tisch.« Kaskel ahmte ihn theatralisch nach. »Betrachten
Sie sich als engen Freund von Mr. Cavello? Hat er,
sagen wir, Sie schon zum Abendessen eingeladen?«
»Ich war tatsächlich schon mal mit Ihrem Mandanten zum
Essen, Mr. Kaskel.« Machia grinste. »Nach Frank
Angelottis
Beerdigung. Viele von uns waren dabei. Aber was das
andere
betrifft – nein, ich war nur ein Soldat. Anders funktioniert
das
nicht.«
»Dann haben Sie nie gehört, wie Mr. Cavello irgendwelche
Befehle im Namen des Guarino-Klans gegeben hat? Er hat
Ihnen zum Beispiel nie gesagt: ›Tun Sie mir einen
Gefallen‹
oder ›Samuel Greenblatt muss getötet werden‹?«
»Nein, Mr. Kaskel, so nicht.«
»Es wurde anderen Leuten überlassen, Ihnen das zu
erklären.
Zum Beispiel Ralphie D., den Sie erwähnt haben, oder
diesem
anderen Tommy … dem mit dem komischen Namen.« »Tommy
Mustopf.«
»Tommy Mustopf.« Kaskel nickte. »Entschuldigen Sie.« »Schon in
Ordnung, Mr. Kaskel. Wir haben alle komische
Namen.«
Vereinzelt brach wieder Gelächter im Gerichtssaal durch. »Ja, Mr.
Machia«, fuhr der Anwalt fort, »aber worauf ich
hinauswill, ist Folgendes: Sie haben meinen Mandanten nie
direkt sagen hören, es sei eine gute Sache, wenn jemand
diesen
Sam Greenblatt töten würde, oder?«
»Nein, nicht direkt.«
»Das haben Sie von Ralphie D. gehört, der ihn, wie Sie
sagen,
gesehen hat, wie er mit dem Wagen irgendwo in New Jersey
herumgefahren ist.«
»Das war nicht ›irgendwo‹ in New Jersey. Das war einen
Block von dort entfernt, wo Mr. Greenblatt getötet wurde.« »Von
Ihnen, Mr. Machia.«
»Ja, Sir.« Machia nickte. »Von mir.«
Kaskel kratzte sich am Kinn. »So, Sie behaupten von sich,
ein
langjähriges Mitglied des Guarino-Klans zu sein, stimmt
das?
Und Sie haben gestanden, im Namen dieses Klans eine Menge
böser Dinge getan zu haben.«
»Ja«, antwortete Machia. »In beiden Fällen.«
»Zum Beispiel … Menschen getötet oder mit Drogen gehandelt zu
haben. Ist das richtig?«
»Das ist korrekt.«
»Mit welcher Art von Drogen haben Sie gehandelt,
Mr. Machia?«
Machia zuckte mit den Schultern. »Marihuana, Ecstasy, Heroin,
Kokain. Was Sie wollen.«
»Hmpf«, kicherte der Anwalt in Richtung der Geschworenen.
»Sie sind ein richtiger Unternehmer, was? Stimmt es, dass
Sie
eine Waffe besessen haben, Mr. Machia?«
»Ja, Sir. Ich hatte immer eine Waffe.«
»Haben Sie in Verbindung mit diesen Drogen diese Waffe
jemals benutzt oder das Leben eines anderen bedroht,
Mr. Machia?«
»Ja, Sir, das habe ich.«
»Haben Sie jemals diese Drogen auch selbst genommen,
Mr. Machia?«, drängte Kaskel weiter.
»Ja, ich habe Drogen genommen.«
»Sie machen also keinen Hehl daraus, ein Drogenkonsument,
Autodieb, Einbrecher, Kniebrecher und, ach ja, ein Mörder
zu
sein, Mr. Machia. Sagen Sie, hatten Sie im Verlauf Ihrer
langjährigen Verbrecherkarriere jemals die Gelegenheit zu
lügen?«
»Lügen?« Machia gluckste. »Natürlich habe ich gelogen.
Ich
habe ständig gelogen.«
»Mit ›ständig‹ meinen Sie … einmal im Monat? Einmal die
Woche? Jeden Tag, vielleicht?«
»Wir haben immer gelogen, Mr. Kaskel.«
»Warum?«
»Warum wir gelogen haben? Um keine Probleme zu kriegen.
Um nicht geschnappt zu werden.«
»Haben Sie jemals die Polizei angelogen, Mr. Machia?« »Klar habe
ich die Polizei angelogen.«
»Das FBI?«
»Ja.« Machia schluckte. »Als ich das erste Mal verhaftet
wurde, habe ich das FBI angelogen.«
»Was ist mit Ihrer Frau, Mr. Machia? Oder, sagen wir,
Ihrer
Mutter? Haben Sie die auch angelogen?«
Louis Machia nickte. »Ich denke, im Laufe meines Lebens
habe ich so ungefähr jeden angelogen.«
»Dann schauen wir der Tatsache mal ins Gesicht, Mr.
Machia:
Sie sind also ein Gewohnheitslügner. Im Grunde genommen
haben Sie jeden angelogen, den Sie kennen. Die Menschen,
mit
denen Sie zusammenarbeiten, die Polizei, das FBI, Ihre
Frau.
Selbst die Frau, die Sie geboren hat. Lassen Sie mich noch
eine
Frage stellen, Mr. Machia. Gibt es eine Sache, über die Sie
nicht
gelogen haben?«
»Ja.« Louis Machia richtete sich auf. »Darüber.«
»Darüber?«, imitierte Kaskel ihn in übertriebener Weise.
»Damit meinen Sie, wie ich annehme, Ihre Zeugenaussage?« »Ja,
Sir.«
»Die Staatsanwaltschaft hat Ihnen einen netten Handel versprochen,
oder? Wenn Sie ihr erzählen, was sie hören will.« »Wenn ich meine
Verbrechen gestehe und die Wahrheit sage.«
Machia zuckte mit den Schultern. »Sie meinten, sie würden
das
berücksichtigen.«
»Damit meinen Sie, Ihre Strafe zu verringern?«
»Ja.«
»Vielleicht auch eine Freilassung?«, bohrte Augenbraue
mit
weit aufgerissenen Augen nach. »Ist das nicht korrekt?« Machia
nickte. »Das wäre möglich.«
»Dann sagen Sie uns, Mr. Machia, warum Ihnen die Geschworenen jetzt
glauben sollen, wenn Sie, wie Sie zugegeben haben,
praktisch jede andere Instanz in Ihrem Leben angelogen
haben,
um Ihre Haut zu retten?«
Machia lächelte. »Weil es für mich jetzt keinen Sinn hat
zu
lügen.«
»Es hat keinen Sinn?« Kaskel kratzte sich wieder am Kinn.
»Warum nicht?«
»Weil man mich im Gefängnis behält, wenn man mich bei
einer Lüge erwischt. Um meine Strafe zu verringern,
brauche
ich nur die Wahrheit zu sagen. Ist doch logisch, Mr.
Kaskel,
oder?«
Und wieder war es Zeit für eine Mittagspause. Andie ging mit
O’Flynn und Marc, dem Krimischreiber, nach Chinatown,
einen
kurzen Fußmarsch vom Gericht am Foley Square entfernt. Eine Zeit
lang pickten sie in den Vorspeisen herum, bevor die
Stimmung etwas lockerer wurde. Andie erzählte von Jarrod
und
wie es war, einen Jungen ganz allein in der Stadt
großzuziehen.
O’Flynn erkundigte sich über die Arbeit für Die Sopranos, doch
Andie musste zugeben, geflunkert zu haben. »Ich war nur
Statistin. Ich habe übertrieben, weil ich nicht auf die
Geschworenenbank wollte.«
»Jesses.« O’Flynn starrte sie mit glasigen Augen an. »Sie
hatten mir schon das Herz gebrochen.«
»John hat sich durch fünf Jahre Wiederholungen gespult,
um
diese Bada-Bing-Szene mit Ihnen zu finden.« Marc grinste
und
klemmte ein Stück Tofu zwischen seine Essstäbchen. »Und was ist mit
Ihnen?« Andie wandte sich an Marc. »Was
für Sachen schreiben Sie?«
Marc wirkte auf Andie ziemlich locker. Er sah ein
bisschen
wie Matthew McConaughey aus, hatte blonde, etwas längere
Locken und trug immer Jeans mit dunkelblauem Jackett und
offenem Hemd.
»Ein paar ganz gute Krimis sind dabei – einer wurde für
einen
Edgar Award nominiert. Und ich habe ein paar Drehbücher
für
CSI und NYPD Blue
geschrieben.«
»Dann sind Sie ja so was wie eine Berühmtheit«, meinte
Andie.
»Ich kenne ein paar berühmte Autoren«,
erwiderte er grinsend.
»Mache ich Sie nervös?«
»Ja, ich kann kaum meine Essstäbchen halten.« Andie
grinste
zurück. »Schauen Sie, wie die zittern.«
»Ich muss euch mal was fragen«, begann O’Flynn mit gesenkter
Stimme. »Ich weiß, dass wir nicht darüber reden dürfen,
aber
dieser Machia – was sollen wir von dem halten?«
»Wir halten ihn für einen kaltherzigen Hurensohn«,
antwortete
Marc. »Aber er weiß, wie er die Lacher auf seine Seite zieht.« »Er
ist ein Hurensohn«, stimmte Andie zu. »Aber als er über
seinen Freund geredet hat, ich weiß nicht, da hatte ich
den
Eindruck, dass eine ganz andere Seite von ihm
durchschimmert.«
»Was ich wirklich fragen wollte« – O’Flynn beugte sich vor
–,
»glauben wir ihm? Trotz all der Scheiße, die er fabriziert hat?«
Andie blickte zu Marc. Machia war ein Mörder und
Gangster.
Er hatte womöglich hundert furchtbare Dinge getan, für die
er
nie würde geradestehen müssen. Aber jetzt behauptete er,
die
Wahrheit zu sagen, weil er nichts mehr zu verlieren hätte. Marc
zuckte mit den Schultern. »Ja, ich glaube ihm.« Beide blickten zu
Andie. »Ja, ich glaube ihm auch.« Als die Geschworenen vom
Mittagessen zurückkamen, nahm ein Koloss von einem Mann den
Zeugenstand ein. Er wog vielleicht hundertfünfzig Kilo und gehörte
zu der Sorte ungesund aussehender Menschen, wie ich sie bisher nur
selten zu
Gesicht bekommen hatte.
»Können Sie uns Ihren Namen nennen«, bat Joel
Goldenberger und erhob sich, »und Ihren gegenwärtigen
Aufenthaltsort?«
»Mein Name ist Ralph Denunziatta«, antwortete der Dicke,
»und mein gegenwärtiger Aufenthaltsort ist ein
Bundesgefängnis.«
Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall, der das
ganze
Gebäude zu erschüttern schien.
Alle sprangen auf oder bedeckten die Köpfe. Höchste Eisenbahn,
unter die Tische zu kriechen. Es wurde geschrien. Einer
der Marshals ging auf Cavello zu. Niemand wusste, was
passiert
war. Ich erhob mich und wollte über das Geländer springen,
um
die Richterin zu schützen.
Dann wieder dieser Lärm. Von der Straße. Vielleicht eine
gezielte Explosion auf einer Baustelle oder eine
Fehlzündung
eines Lastwagens. Alle blickten sich nervös um, als das Keuchen im
Gerichtssaal langsam verstummte.
Der Einzige, der sich nicht bewegt hatte, war Cavello. Er
saß
nur einfach da, blickte sich um und grinste in sich hinein.
»Hey,
was schaut ihr mich so an?«, fragte er. Fast der gesamte
Gerichtssaal brach in Lachen aus.
Die Verhandlung wurde fortgesetzt. Denunziatta war um die
fünfzig, hatte mehrere Doppelkinne und angegrautes,
dünner
werdendes Haar. Er sprach mit leiser Stimme. Wie Machia
kannte ich auch ihn ziemlich gut. Ich war derjenige, der ihn
verhaftet hatte. Eigentlich mochte ich Ralphie, wenn man einen
Typen mögen kann, den es nicht weiter juckt, wenn sein
Gegenüber tot umfällt.
Joel Goldenberger trat an den Zeugenstand. »Mr.
Denunziatta,
wie würden Sie Ihre Stellung im organisierten Verbrechen
beschreiben?«
»Ich war Captain im Guarino-Klan.« Er sprach mit
gedämpfter
Stimme und abgewandtem Blick.
»Ralphie D.?«, fragte Goldenberger.
Denunziatta nickte. »Ja, der bin ich.«
»Sie haben einen College-Abschluss, Mr. Denunziatta?«,
fuhr
Goldenberger fort.
»Ja, Sir. In Wirtschaft. An der LIU.«
»Aber Sie haben nie regulär in Ihrem Beruf gearbeitet?
Sie
haben sich entschlossen, Ihr Leben dem Verbrechen zu
widmen?«
»Das ist korrekt.« Denunziatta nickte wieder. Als er noch
ein
Junge war, hatte sein Vater als einer von Cavellos
Handlangern
gearbeitet. »Mein Vater wollte, dass ich Aktienhändler
werde
oder Jura studiere. Aber die Dinge änderten sich. Der Klan
hatte
sich ehrlichen Geschäften zugewandt – Restaurants,
Nachtclubs,
Lebensmittelvertrieb –, und dort bin ich eingestiegen.
Ich
dachte, ich könnte ein paar Dingen aus dem Weg gehen, Sie
wissen schon, Dinge, über die alle reden – Gewalt,
schmutzige
Arbeit.«
»Aber das konnten Sie nicht, Mr. Denunziatta?«, fragte
Joel
Goldenberger.
»Nein, Sir.« Denunziatta schüttelte den Kopf. »Das konnte
ich
nicht.«
»Und eins dieser Dinge, denen Sie nicht aus dem Weg gehen
konnten, war die Beteiligung am Mord an Sam Greenblatt?«
Denunziatta blickte auf seine Daumen hinab. »Ja.«
»Und Sie haben sich schuldig bekannt, an diesem
Verbrechen
beteiligt gewesen zu sein. Ist das richtig?«
»Das ist richtig«, antwortete er. »Ich habe mich des
Totschlags
schuldig bekannt.«
»Warum, Mr. Denunziatta? Können Sie Ihre tatsächliche
Beteiligung an Mr. Greenblatts Tod beschreiben?«
Denunziatta räusperte sich. »Thomas Mussina kam zu mir.
Er
war damals Captain. Er unterstand direkt Dominic Cavello.
Er
wusste, dass ein paar Leute, die für mich arbeiteten, dem
Klan
einen Gefallen schuldeten. Jimmy Cabrule – er hatte Spielschulden.
Und Louis Machia – der war darauf aus, zum Soldaten
gemacht zu werden. Er dachte, es sei eine gute Gelegenheit.« »Mit
›Gelegenheit‹ meinen Sie, dass Mr. Machia formal im
Klan aufgenommen werden würde, wenn er sich am Mord an
Mr. Greenblatt beteiligte? Ist das korrekt?«
»Das ist korrekt, Mr. Goldenberger.«
»Fahren Sie fort, Mr. Denunziatta. Haben Mr. Cabrule und
Louis Machia diesen Mord ausgeführt?«
»Ja. Vor Greenblatts Haus in Jersey. Am 6. August 1993.« »Sie
scheinen das Datum gut zu kennen, Mr. Denunziatta.
Waren Sie dort?«
»Ich war dort in der Gegend.«
»In der Gegend?« Goldenberger legte den Kopf zur Seite. »Ich fuhr
mit einem Wagen durchs Viertel, vielleicht zwei
Blocks entfernt. Ich hörte die Schüsse und sah, wie Louis
und
Jimmy C. vorbeirasten. Louis’ Freund Stevie Mannarino saß
am
Steuer.«
»Fuhr sonst noch jemand in diesem Viertel herum,
Mr. Denunziatta? Zu dem Zeitpunkt, als Mr. Greenblatt ermordet
wurde?«
»Ja, Sir.« Denunziatta nickte. »Tommy Mustopf. In einem
grauen Lincoln.«
»Okay, Thomas Mussina war da. In einem Lincoln. Saß bei
Mr. Mussina noch jemand im Wagen?«
»Ja.« Ralphie sog hörbar die Luft ein. »Dominic Cavello
saß
im Wagen.«
»Wie konnten Sie sich so sicher sein, Mr. Denunziatta, dass
es
Mr. Cavello war, der bei Thomas Mussina im Wagen saß?« »Weil sie
angehalten und mir zugewinkt haben. Ein paar
Blocks vom Tatort entfernt.«
»Aber das hat Sie nicht überrascht, Mr. Denunziatta? Ihn,
den
Elektriker, dort zu sehen?«
»Nein, Sir.«
»Und können Sie den Geschworenen sagen, warum?« »Weil Tommy mir am
Abend zuvor gesagt hatte, sie würden
kommen. Er und Mr. Cavello. Er sagte, Mr. Cavello wolle
sichergehen, dass alles glattlief.«
Denunziatta blickte auf, als fühlte er sich magnetisch
vom
Angeklagten angezogen.
Cavello erwiderte seinen Blick mit einem eiskalten,
traurigen
Lächeln. Es hatte etwas Entschlossenes. Alle sahen es. Es
war,
als würde die Temperatur im Gerichtssaal schlagartig um
fünf
Grad sinken.
Erzähl ruhig weiter, schien Cavellos Lächeln zu sagen.
Tu,
was du tun musst. Wenn alle Karten gespielt sind, werde
ich
weitersehen.
Du bist dem Tode geweiht,
Ralphie.
Goldenberger holte den Zeugen in die Gegenwart zurück.
»Ihrem Wissen nach zu urteilen, Mr. Denunziatta, wusste
Mr. Cavello bereits im Vorfeld vom Mord an Mr. Greenblatt?«
»Natürlich wusste er von dem Mord, Mr. Goldenberger.
Tommy hätte seine Schuhe nicht zugebunden, ohne dass es
ihm
der Boss gesagt hätte. Cavello hat den Mord angeordnet.« Auch
Miriam Seiderman hatte diesen grässlichen Blick bemerkt. Es hatte
die Verhandlung fast zum Erliegen gebracht, dass sich alle Augen
auf Cavello richteten. Bisher hatte sich der Mafiaboss von seiner
besten Seite gezeigt, aber Richterin Seiderman wusste, dass sein
Geduldsfaden schnell reißen konnte. Die Aussagen der ersten beiden
Zeugen waren vernichtend gewesen. Das merkte sie den Geschworenen
an. Nur ein Volltrottel würde glauben, Cavello hätte nichts mit dem
Mord an Greenblatt zu
tun.
Trotzdem saß er einfach da, als hätte er alles geplant.
Sein
Leben ging den Bach hinunter, doch er stand über allem: Ihr
könnt mich nicht festhalten, ich bin stärker als ihr. Ich
bin
stärker als das ganze System. Ihr könnt nicht über mich
richten.
Ein Schauder lief ihr den Rücken hinab.
Nach Feierabend war sie mit ihrem Mann Ben und einem
seiner Mandanten zum Abendessen verabredet. Ben war
Partner
bei Rifkin, Sales, einer der größten Rechtsanwaltskanzleien
in
der Stadt. Miriam hörte zu, versuchte zu lachen. Der
Mandant,
Howard Goldblum, war einer der erfolgreichsten Bauträger
von
New York.
Doch innerlich hatte sie Angst. Immer wieder ging ihr der
Prozess durch den Kopf, irgendetwas tobte in ihr. Etwas, das
mit
dem Mann zu tun hatte. Damit, dass er sich durch kein
System
unterkriegen lassen wollte. Sie und Ben gingen gegen zehn
Uhr
nach Hause. Die Alarmanlage war eingeschaltet, nachdem
die
Haushälterin bereits Feierabend gemacht hatte. Miriam verriegelte
die Tür und ging nach oben.
Sie wusste, dass sie Ben von dem heutigen Tag erzählen
sollte.
Aber es war dumm, und sie wollte nicht wie ein dummer
Mensch dastehen. Sie hatte schon hundert Prozesse geführt. Sie
hatte eine Menge unverschämter Verbrecher gesehen, die dachten, sie
wären die Größten. Warum sollte der hier anders
ein? War er nicht! Zum Teufel mit ihm.
Ben verschwand in seinen begehbaren Schrank, um sich
auszuziehen, anschließend ins Bad. Miriam hörte, wie er
sich
die Zähne putzte. Sie ging hinüber zu ihrem Bett und zog
die
Decke zurück.
Miriam Seiderman hatte das Gefühl, ihr Herz würde stehen
bleiben.
»Ben! Ben, komm her, schnell! Ben!«
Ihr Mann kam mit der Zahnbürste in der Hand aus dem Bad
gerannt. »Was ist los?«
Unter der Decke lag eine Zeitung, aufgeschlagen auf Seite
zwei. Die Überschrift: TÖTENDE BLICKE IM GERICHTSSAAL.
Sie blickte auf Dominic Cavello. Das Bild eines Gerichtszeichners,
auf dem genau der Moment im Gerichtssaal
eingefangen war, der sie den ganzen Abend über bedrückt hatte.
Dieser Blick.
Sie drehte sich zu Ben. »Hast du die hierher gelegt?«,
fragte
sie ihn.
Ihr Mann schüttelte den Kopf und nahm die Zeitung. »Nein,
natürlich nicht.«
Miriam Seiderman lief es eiskalt den Rücken hinab. Das
Haus
war abgeschlossen und die Alarmanlage eingeschaltet
gewesen.
Ihre Haushälterin, Edith, war um vier Uhr gegangen.
Was war hier los? Das hier war die Abendzeitung.
Jemand war am Abend ins Haus eingebrochen!
Etwa zur selben Zeit las Nordeschenko in einem schwach beleuchteten
albanischen Café in Astoria, Queens, ebenfalls die
Zeitung.
Ein paar Gäste saßen an der Bar. Aus ihrem Heimatland
wurde
ein Fußballspiel per Satellit übertragen, und die Jungs an der
Bar
tranken und grölten und riefen hin und wieder dem
Fernseher
etwas in ihrer Sprache zu.
Die Cafétür wurde geöffnet, und zwei Männer traten ein.
Einer
war groß, hatte eiskalte, blaue Augen. Blonde Locken hingen
bis
zu den Schultern seiner schwarzen Lederjacke. Der andere
war
klein und dunkel, wirkte wie jemand aus dem Nahen Osten.
Er
trug eine grüne Militärjacke und eine Tarnfleckhose. Die
beiden
Männer setzten sich an den Tisch neben dem von Nordeschenko, der
kein einziges Mal den Kopf hob.
»Schön, dich zu sehen, Remi.«
Nordeschenko lächelte. Remi war sein russischer
Spitzname.
Damals in der Armee, in Tschetschenien. Eine Abwandlung
von
Remlikov, seinem echten Namen. Nordeschenko hatte ihn
seit
fünfzehn Jahren nicht mehr verwendet.
»Sieh mal an, was der Wind uns gebracht hat.«
Nordeschenko
faltete seine Zeitung zusammen. »Oder vielmehr der
Müllwagen.«
»Immer zu einem Kompliment aufgelegt, Remi.«
Reichardt, der Blonde mit der Narbe unter dem rechten
Auge,
war Südafrikaner. Nordeschenko hatte schon oft mit ihm
zusammengearbeitet. Er war fünfzehn Jahre lang Söldner in
Westafrika gewesen und kannte sich in seinem Beruf
bestens
aus. Er war bereits in einem Alter in der Lage gewesen,
einem
Menschen schreckliche Schmerzen zuzufügen, als die
meisten
Jungs noch Grammatik und Rechnen lernten.
Nezzi, den Syrer, hatte er während seiner Zeit in Tschetschenien
kennen gelernt. Nezzi war an einem Terrorüberfall gegen die Russen
beteiligt gewesen, bei dem viele Schulkinder getötet worden waren.
Nezzi hatte Gebäude in die Luft gesprengt und russische Gesandte
erschossen. Er beherrschte das ganze Repertoire. Er wusste, wie man
eine Bombe aus Materialien baute, die man in jedem Laden kaufen
konnte. Nezzi kannte keine Skrupel und keine Ideologien. Im
Zeitalter des Fanatismus
gehörte er zu einer aussterbenden Rasse. Irgendwie erfrischend.
»Sag mal, Remi«, der Südafrikaner drehte sich auf seinem
Stuhl, »du hast uns doch nicht hierher gelockt, damit wir
uns
albanischen Fußball ansehen?«
»Nein.« Nordeschenko warf die Zeitung mit der Zeichnung
aus dem Gerichtssaal auf ihren Tisch. Es war eine Ausgabe
derselben Zeitung, die er vor wenigen Stunden der Richterin
ins
Bett gelegt hatte.
»Cavello.« Nezzi zog die Augenbrauen zusammen. »Er steht
doch vor Gericht, oder? Du willst, dass wir für ihn einen
Auftrag
erledigen, während er im Gefängnis ist? Das ließe sich einrichten,
nehme ich an.«
»Trinkt ruhig was«, lud Nordeschenko sie ein und winkte
der
Kellnerin.
»Ich trinke hinterher was«, lehnte der Südafrikaner ab.
»Und
wie du weißt, lebt unser Muslim hier nach den strengen
Regeln
des Korans.«
Nordeschenko lächelte. »In Ordnung.« Dann hob er die Zeitung noch
einmal an. Darunter befand sich eine andere
Zeichnung, die Nordeschenko gleich nach dem ersten Tag
der
Verhandlung aus der Zeitung geschnitten hatte.
Beide Mörder starrten darauf. Langsam wurde ihnen die
Botschaft klar.
»Wollt ihr jetzt was trinken?«, fragte Nordeschenko. Reichardts
Blick sagte: Wahnsinn. »Das hier ist Amerika,
Remi, nicht Tschetschenien.«
»Wo sonst könnte man besser neues Land erobern?« »Ouzo«, bestellte
Reichardt bei der Kellnerin.
»Drei«, rief Nezzi mit einem Achselzucken.
Die Gläser wurden gebracht, und unter dem Grölen der Fuß
ballbegeisterten kippten die drei Männer ihren Ouzo und
wischten sich übers Kinn.
Schließlich begann der Südafrikaner zu lachen. »Weißt du,
es
stimmt, was man über dich sagt, Remi: Du könntest
verdammt
gefährlich werden, wenn du mal ausrastest.«
»Darf ich das als ein Ja auffassen? Ihr seid dabei?«,
wollte
Nordeschenko wissen.
»Natürlich sind wir dabei, Remi. Sonst ist ja nichts los hier
in
der Stadt.«
»Noch drei«, rief Nordeschenko der Kellnerin auf Russisch zu. Dann
griff er zur Zeitung und ließ sie mitsamt der Zeichnung
der Geschworenen unter seinem Arm verschwinden. Wenn
diese
dummen Säcke ihren Prozess wollten, würden sie einen
bekommen.
Sie wussten nur noch nicht, welcher Art dieser Prozess
sein
würde.